Anna Meyer: Momentaufnahme

 

Sie war unsagbar schön.

 

Lag da und war sich ihrer Anmut so vollends bewusst, dass es einen fast beschämte.

 

Dennoch konnte ich meinen Blick nicht von ihr nehmen.

 

Möglicherweise gerade wegen dieser Tatsache.

 

Ihre offensichtliche Kenntnis fesselte meinen Blick.

 

Meine Augen glitten immer wieder über jeden Zentimeter ihres Gesichts, ihrer Haut, die wie die einer Porzellanpuppe schimmerte.

 

Ich kannte ihren Anblick auswendig und entdeckte doch jede Sekunde etwas Neues.

 

Trotz des Wissens um ihre Wirkung war sie verletzlich, war sie in ihrem Stolz so verletzlich, dass sie an meinen ernsten Augen hing, ihnen auf dem Weg über ihren Körper unablässig folgte.

 

Sie wartete geradezu auf die Bestätigung eines kaum nennenswerten Makels, den ich aller Wahrscheinlichkeit und ihres Bewusstseins zum Trotz bemerken könnte.

 

Die Bestätigung einer winzigen Unebenheit, die sie schon in einer nur gering wahrnehmbaren Reaktion meinerseits, sei es ein kaum merkliches Zögern, ein unbedeutendes Blinzeln, zu erblicken glaubte.

 

Sie nahm jedes Minenspiel meines Gesichts wahr.

 

Jedes noch so kleine Zucken meiner Mundwinkel, das leicht angedeutete Runzeln meiner Augenbrauen, das schlicht purer Verzückung entsprang.

 

Ihren Mund umspielte ein spöttisches Lächeln, sobald sie den hauchzarten, rötlichen Schimmer erblickte, der sich auf meine Wangen schlich, wenn mein Blick aufs Neue über die empfindlichste Stelle ihren Körpers streifte, um mit jedem Mal etwas länger zu verweilen.

 

Dieses Lächeln erreichte jedoch nicht ihre Augen, die weiterhin aufmerksam auf mich gerichtet waren und diese Bestätigung suchten, die zu finden sie sich fürchtete.

 

Ja, sie war verletzlich und ob sie sich dieser Tatsache bewusst war oder nicht, sie war sich nicht darüber im Klaren, dass man diese Verletzlichkeit sah, zumindest in diesen Augenblicken.

 

Ich bemerkte sie. Und allein wegen dieser einen, nichtigen Unvollkommenheit, die überhaupt nur von ihr selbst als eine bezeichnet würde, war ich in der Lage, den Blick aufrecht zu erhalten.

 

Musste nicht dem inneren Drang folgen und ihn abwenden.

 

Durch sie schreckte ich vor ihrer sonstigen Vollkommenheit nicht zurück, sondern fasste von Augenblick zu Augenblick stetig neuen Mut und wagte, was sich niemand vor mir getraut hatte.

 

Ich beobachtete sie.

 

Und sie spürte, dass ich sie sah. Sie wirklich sah.

 

Nicht sie als Frau, nicht sie als Mädchen, nicht als Tochter oder als Schwester.

 

Nein, ich betrachtete sie und erkannte zögernd.

 

Etwas, das der Welt verborgen blieb, was sie vor der Welt verbarg.

 

Mein Empfinden erhaschte unerwartet ein Stückchen ihres Innernsten, ich bekam einen Bruchteil ihres Wesens zu Gesicht, das sich mir ungewollt wahr darbot.

 

Mich überkam eine Ahnung, die schon wieder schwand, noch bevor ich sie in ihrer Gänze betrachten, geschweige denn begreifen konnte.

 

Das war über alle Maße ungewohnt für sie.

 

Und genau jenes Neue nahm mir die Gelegenheit, den Blick weiterhin auf ihr wandern zu lassen, leichtfüßig den Weg über ihre Gestalt fortzusetzen.

 

Diesen, allen Wünschen gerecht werdenden Anblick ausreichend zu genießen und stattdessen ein Bedauern über eine Entdeckung zu verspüren, von der ich noch nicht einmal wusste, was genau sie überhaupt preisgab.

 

Die gegenwärtige Lage und ihre Endlichkeit trat mir schmerzlich ins Bewusstsein, als sich der Ausdruck ihrer Augen abermals veränderte und sie bestürzt den Blick senkte, als ob sie sich jäh ihrer Nacktheit gewahr wurde und sich ihrer schämte.

 

Sie wandte den Kopf zum Fenster.

 

Wieder zu mir, jedoch ohne mich anzusehen.

 

Sie setzte sich hastig auf und umschlang ihren Körper bedächtig mit dem weißen Leinentuch, bedeckte ihn und sich.

 

Sie erhob sich mit einem Ruck und floh ohne ein Wort.

 

Ließ mich und ihre Angst zurück.

 

Anna Meyer: Magie

 

Meine Konturen verschwimmen nach jedem Treffen mit dir,

 

sie verwischen

 

und mischen sich mit allen Farben des Lebens.

 

 

Bist du bereit zu vergehen?

 

Wollen wir leben und sterben und leben und alles wieder von vorne?

 

Bist du bereit zu entstehen?

 

 

Flieg mit mir hinter Horizonte, die sich ständig erweitern.

 

 

Tauche mit mir in goldenen Meeren nach Silberschätzen und lass uns auf Regenbögen zurückkehren.

 

 

Lass uns immer wieder neu gierig sein aufs Leben und es gierig immer wieder neu erleben.

 

 

Ohne Grenzen, ohne Ende,

 

nur mit träumenden Siebenmeilenstiefeln.

 

Mit denen wir wandeln durch Zeit und Raum, mal bedächtig, mal geschwind.

 

 

Lass uns schweigen und die Zeit totreden.

 

Lass uns reden und das Schweigen zeitlich segnen.

 

 

Lass uns Birnen klau’n statt Äpfeln und einen Kirschkuchen daraus backen.

 

 

Lass uns ohne Kompass die Welt erkunden.

 

 

Lass uns kopfüber ins Ungewisse kippen und trudelnd auf dem Boden der Phantasie landen.

 

 

Lass uns mit Windmühlen Frieden schließen und für Wertvolles kämpfen, ohne Lohn zu erwarten.

 

 

Lass uns der Melodie des Augenblicks summend folgen.

 

Lass uns taumeln auf den gewundenen Straßen des Lebens.

 

 

Lass uns gegen Mauern rennen und Wände einreißen.

 

 

Lass uns in randvollen Zügen das Leben genießen.

 

 

Lass uns pulsieren und explodieren, um uns danach neu zusammenzusetzen.

 

Uns neu zu erfinden.

 

 

Lass uns schlafen in der Wirklichkeit und in unseren Träumen leben.

 

 

Voll Wert sind deine Worte.

 

Sie platzen dir von den Lippen, verlieren dabei vielleicht ihren Sinn,

 

nur, um ihm im nächsten Unsinn wieder zu begegnen.

 

 

Aus ihm erschaffen wir Luftschlösser,

 

in die wir ziehen können, ab und zu.

 

 

Um zu flüchten vor der Welt.

 

Um uns doch im nächsten Augenblick wieder mitten hinein zu stürzen.